Die Geschichte des Bodybuildings ist eine Geschichte voller Missverständnisse. So könnte man scherzhaft sagen und doch wäre viel Wahres dran.
Denn noch immer kursieren in der Literatur und den Fachmagazinen zahlreiche Gerüchte und fragwürdige Ansätze zum Thema Muskelaufbau. Die wachsende Bedeutung des Hypertrophie-Trainings, erkennbar an der deutlich gestiegenen Athletik in fast allen Sportarten, hat hieran wenig geändert.
Der Grund für die anhaltende Verwirrung ist eine bemerkenswerte Entwicklung in der Sportwissenschaft. Diese hatte Bodybuilding jahrelang nicht für eine eigenständige Sportart gehalten und daher ignoriert. So wurde noch bis in die achtziger Jahre die Wirkung anaboler Steroide einem Placebo-Effekt zugeschrieben; heute wissen wir es besser. Mit der Zeit aber wurde den Sportwissenschaftlern bewusst, das Leistungs-Bodybuilder sich intensiver mit den Themen Muskelzuwachs und Fettabbau beschäftigten als die Athleten sämtlicher anderer Sportarten, und das diese Trainingsziele im Leistungssport generell immer wichtiger werden würden. Als man nun begann, die sportwissenschaftlichen Ansätze zu definieren, befragte man die, die man für die einzigen Experten hielt: die Bodybuilder selbst. Sie hatten aus Versuch und Irrtum heraus Ideen über das Training entwickelt, die nun von der Sportwissenschaft übernommen wurden. Dabei wurde allerdings eine Tatsache völlig ignoriert: Bodybuilder, besonders die Profis, waren längst zur Verwendung großer Mengen starker anaboler Steroidhormone übergegangen und hatten ihre Trainingspläne dementsprechend angepasst. Die Programme solcher Athleten dienen seitdem leider immer wieder als Leitfaden für die Trainingsgestaltung dopingfreier Normalsportler und führen zu zahlreichen Fehleinschätzungen.
So führte die Verwendung anaboler Steroide zum Beispiel zu einer deutlichen Erhöhung des Trainingsumfangs, in der Hoffnung, durch die größere Schädigung des Muskelproteins auch ein stärkeres Wachstum auszulösen. Nachdem Bodybuilder lange Zeit mit wenigen Sätzen pro Körperteil trainiert hatten, stieg die Anzahl der Trainingssätze unter dem Einfluss von Doping nun schnell an, bis dreißig oder vierzig Sätze pro Körperteil nicht ungewöhnlich wurden. Nur wenige Athleten, so der Amerikaner Mike Mentzer, folgten diesem Trend nicht.
Der dopingfreie Athlet aber kann eine solch hohe Zahl von Sätzen nicht absolvieren, ohne in den Zustand des Übertrainings zu geraten. Studien beweisen zudem, dass zum Auslösen eines Wachstumsreizes prinzipiell ein einziger Satz pro Muskel genügt. Der angerichtete Schaden am Muskel sowie am neurologischen System ist somit unnötig hoch, wenn mehr als ein paar Sätze absolviert werden. Der Normalathlet, der nicht über die zusätzliche Regeneration durch anabole Steroide verfügt, sollte die Satzzahl daher niedrig halten; zwei bis drei Sätze pro Zielmuskel genügen vollkommen.
Die Erhöhung des Trainingsvolumens hatte aber noch einen weiteren Effekt. Sie führte zur Entwicklung von Split-Programmen, bei denen das Training des Körpers auf verschiedene Trainingseinheiten aufgeteilt wird. Dies soll die Dauer der einzelnen Einheiten in Grenzen halten und durch das Einbinden mehrtägiger Pausen die Regeneration sicherstellen. Für den dopingfreien Sportler ergibt sich aus einer solchen Trainingsplanung allerdings ein Problem. Während der Steroid-Benutzer durch seine Medikation über einen permanenten Schutz vor unerwünschtem Muskelabbau verfügt, muss ein Normalsportler seine Muskulatur zu diesem Zweck jeden zweiten Tag belasten. Denn Studien beweisen, dass der Eiweiß-Stoffwechsel nur etwa 48 Stunden lang nach dem Training erhöht bleibt. Wird ein Muskel nun nach den üblichen Split-Programmen nur ein oder zweimal pro Woche belastet, so kommt es beim dopingfreien Athleten meist nicht zu den gewünschten Fortschritten, da kein permanenter eiweißaufbauender Zustand erreicht wird. Normalsportler sollten daher entweder jeden zweiten Tag ein Ganzkörper-Training absolvieren oder täglich nach einem Zweier-Split trainieren.
Ein weiterer, häufig verbreiteter Irrtum ist die Annahme, man müsse jeden Satz mit maximaler Intensität ausführen und die Muskulatur bis zum lokalen Versagen ausbelasten. Ein Grund hierfür ist sicherlich die Art des Trainings, die durch die Vorreiter des Niedrig-Volumen-Trainings propagiert wurde. Es waren vor allem Mike Mentzer und Dorian Yates, die in den sechziger, bzw. neunziger Jahren mit ihren Trainingsprogrammen für Beachtung sorgten. Extrem wenige Sätze, extrem hohe Intensität – so lautete ihre Devise.
Die Idee, Wachstum durch geringes Trainingsvolumen zu erreichen, war richtig. Die Annahme, die fehlende Quantität durch hohe Intensität ausgleichen zu müssen, war falsch. Denn erstens birgt ein hochintensives Training über die normalen Belastungsgrenzen hinaus ein unnötig hohes Verletzungsrisiko. Zweitens belegen Studien, dass Wachstumsreize bereits bei submaximalem Training, also nur etwa neunzig Prozent der möglichen Wiederholungszahl, ausgelöst werden. Das Ausführen des Satzes bis zur letzten möglichen Wiederholung oder sogar darüber hinaus führt daher lediglich zu überhöhten Verschleiß-Schäden an Muskulatur und neurologischem System. Und selbst wenn der Wachstums-Impuls kleiner sein sollte, als durch Ausbelastung des Muskels, so ermöglicht die geringere Intensität jedoch ein häufigeres Training und damit auch häufigere Wachstums-Reize.
Für den dopingfreien Athleten ist es also wichtig, Volumen und Intensität des Trainings niedrig zu halten, damit sich durch häufiges, moderates Belasten der Muskulatur kleine Zuwächse akkumulieren. In diesem Zusammenhang ist auch eine regelmäßige, vollständige Pause vom Training von großer Bedeutung. Nach zwei bis drei Monaten neigt der Körper dazu, auf den Trainingsreiz nicht mehr mit weiterem Muskelzuwachs zu reagieren. Daher sollte regelmäßig in diesem Abstand für mindestens eine, besser zwei Wochen komplett auf das Training verzichtet werden. Lediglich leichtes Ausdauertraining kann absolviert werden, da es die Regeneration unterstützt. Nach der Pause kommt es üblicherweise wieder zu den erwünschten Fortschritten durch das Muskelaufbautraining.